Unsichtbares Essen schmeckt besser

Haben Sie sich schon einmal die Augen verbinden und etwas in den Mund stecken lassen? Dann kennen Sie die Explosion der ersten Sinneseindrücke, wenn Sie sich ganz auf das Erlebnis einlassen.

Ein düsteres Geschenk

Vor einigen Jahren hat meine Schwester mich zu einem ganz besonderen Blind-Date eingeladen. Es handelte sich um ein Dinner im größten Dunkelrestaurant der Welt: die Unsicht-Bar in Berlin.

Wir wurden kurz eingewiesen, dass keinerlei Lichtquellen oder selbstständiges Herumlaufen erlaubt sind. Die Anordnung auf dem Teller soll mit den Stunden auf einer Uhr verglichen werden und wir würden von einem persönlichen Begleiter an die Hand genommen.

Dieser führte uns dann durch mehrere Schleusen in den schwärzesten Raum, den man sich vorstellen kann. Mit weit aufgerissenen Augen und an die unsichtbare Hand klammernd machten wir unsichere Schritte hin zu unserem Tisch. Dort wurden wir vorsichtig platziert und man brachte uns wie aus dem Nichts die bestellten Getränke.

Meine Schwester durfte hier direkt eine wichtige Lektion lernen: Was passiert, wenn man eine Flasche Fanta ohne hinzugucken in ein Glas umfüllt? Japp, es sprudelt über und die Flüssigkeit verteilt sich zwar ungesehen, aber trotzdem über den ganzen Tisch.

Nach dem ersten, nervösen Lacher war zumindest das Eis gebrochen und wir unterhielten uns im Dunkeln über etliche Tische hinweg mit den übrigen Besuchern. Zumindest gehe ich davon aus, dass es andere Gäste waren – sicher sein kann ich mir natürlich nicht.

Warum im Dunkeln tappen?

Es geht dabei um die Erfahrung, sich einmal nicht von den optischen Eindrücken dominieren zu lassen. Sondern sich auf die etwas subtileren Informationen von Gehör, Geschmack, Geruch und dem Gefühl einzulassen.

Fühlen Sie einen sanften Lufthauch. Ertasten Sie die Gegenstände auf dem Tisch. Lassen Sie die Nase ungeahnte Sphären erkunden und erfahren Sie die Dramatik feiner Geschmacksnuancen ohne optische Täuschung. Sie spüren die Präsenz Ihrer Tischnachbarn. Ein wahrer Sinnesrausch!

Natürlich bekommt das Essen an sich schon eine ganz neue Intensität. Zumal wir vorher nicht wussten, was uns serviert werden würde. Aber tatsächlich kann ich mich nur noch schwach an diese Überraschung erinnern.

Allerdings die Hilflosigkeit in dieser unsichtbaren Umgebung plötzlich auf fremde Menschen angewiesen zu sein, hinterließ einen bleibenden Eindruck. Und man konnte plötzlich ein Stück über seinen sonst so begrenzten Tellerrand hinaus schauen, Dinge wahr nehmen die man sonst einfach ausblendet. Auch die Prioritäten änderten sich in dieser bizarren Situation komplett.

Während es sonst bei einem Abendessen eher um oberflächliche Etikette geht, und man heimlich Restaurantbesucher an den übrigen Plätzen beobachtet; saßen wir plötzlich alle samt im selben Boot auf undurchschaubaren Gewässern. Da wurde es egal, welche Frisur die Madame nebenan trug oder ob der Herr sich auf die Hose kleckerte.

Bei all dem bekam man einen kurzen Einblick, wie es sich für blinde Menschen ihr Leben lang darstellen muss.

Folgen der Dunkelheit

Was als ein amüsanter Abend geplant war, wurde nicht nur zu einer tiefgreifenden Erkenntnis für mich. Sondern die Erfahrung veranlasste mich sogar dazu, eine Arbeit während meines Pädagogik-Studiums zu dem Thema “Behinderung als Qualifikation” zu schreiben. Ohne hier besonders prahlen zu wollen, bin ich mit diesem Vortrag für den damaligen Bürgermeister-Preis vorgeschlagen worden.

Die Wichtigkeit dieser Debatte hat meiner Meinung nach inzwischen nicht an Aktualität verloren. Noch immer wird allgemein in der Gesellschaft eine “Behinderung” als etwas angesehen, das den Betroffenen behindert – wie dieses Wort schon verdeutlicht – und möglichst verbessert werden sollte. Es fehlt der Aspekt, das jede Andersartigkeit auch einen Vorteil mit sich bringt und gerade eine diverse Gesellschaft davon profitieren kann, wenn es eine bunte Bandbreite an unterschiedlichen Fähigkeiten gibt.

Es wäre also optimal, nicht nur den Blickwinkel auf “Behinderte” zu ändern, sondern auch ihre besonderen Merkmale zu nutzen. So wie zum Beispiel in der Dunkelheit der Unsicht-Bar die Blinden plötzlich zu den Sehenden werden. Die “beeinträchtigten” Kellner sind dort die Wegweiser für die “normalen” Menschen.

Bei der Stellenausschreibung wird ganz gezielt nach der Eigenschaft des “nicht Sehen könnens” verlangt. Man könnte es stattdessen auch anders bezeichnen und nach der Fähigkeit “sich im Dunkeln zurecht finden” fragen. – Etwas das Sehende nicht können.

Dunkle Entstehung

Die Idee, blinde Menschen und sehende Menschen zusammen an einen Tisch zu bringen, stammt von Axel Rudolph und Andreas Heinecke. Für die Stiftung Blindenanstalt in Frankfurt am Main entwarfen sie 1988 ein Kulturangebot, aus dem das Konzept Dialog im Dunkeln entstand.

Die Ausstellung wurde seither bereits in über 30 Ländern und mehr als 130 Städten gezeigt. Sie umfasst nachgestaltete Alltagssituationen, wie z.B. den Besuch eines Cafés oder Restaurants.

Durch diese auf der Expo.02 angeregt, wurde 1999 in Zürich das erste Dunkelrestaurant blindekuh eröffnet und erhielt zahlreiche Preise.

Ein Jahr später entstand das Dialoghaus in Hamburg, was sich für die Inklusion von Blinden und auch Gehörlosen einsetzt. Dort werden nicht nur Empathie und gleichberechtigte Begegnungen gefördert, sondern es entstehen auch jede Menge Arbeitsmöglichkeiten für ansonsten schwer vermittelbare Menschen.

Inzwischen gibt es eine große Zahl an Dunkelrestaurants weltweit mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Manche bieten als Erlebnisgastronomie eine Show wie das Krimi-Dinner im Dunkeln oder sie versprechen einen “Sinneswandel” im DarkRoom.

Auf jeden Fall kann ich eine solche Erfahrung jedem empfehlen, um einmal den eigenen Blick auf sich selbst und die Welt um einen herum zu erweitern.

Autor: SmileGlobetrotter

Quellen:

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