Um Einhörner ranken sich jede Menge Mythen und Legenden. Aber wer sagt eigentlich, dass sie besonders ästhetische Wesen waren? In Magdeburg kann man die Überreste eines vielleicht behinderten Einhorns bestaunen und sich von seinem Anblick verzaubern lassen – auch wenn man sonst nicht an sie glaubt.
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Vielleicht kennen so manche noch aus dem Physikunterricht das berühmte Experiment der “Magdeburger Halbkugeln“, mit dem Otto von Guericke 1656 das Vakuum bewiesen hatte.
Er war außerdem der Bürgermeister von Magdeburg, hat nebenbei noch die Luftpumpe erfunden und versuchte sich als Archäologe. Sein berühmtestes Werk kann man noch heute im Museum für Naturkunde bewundern, obwohl es eher in eine Kuriositäten-Sammlung gehört.
Auf Twitter hat es den Titel als die “schlimmste fossile Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte” bekommen. Und wenn man sich vorstellt, wie es lebendig ausgesehen haben müsste, bekommt man direkt Alpträume davon:


Die ursprüngliche Legende vom Einhorn
In der Vorstellungskraft von Menschen waren Einhörner schon immer präsent. Heute werden sie zumeist als edles, weißes Pferd mit einem großen, spiralförmigen Horn auf der Stirn dargestellt. Manche Geschichten erzählen außerdem von einem Ziegenbart und gespaltenen Hufen oder von Flügeln wie bei Pegasus.
Diese Überlieferungen reichen weit zurück und sind in zahlreichen Regionen auf der Erde vertreten. Die ersten schriftlichen Zeugnisse über das Fabeltier finden sich in der griechischen Antike. Bereits zuvor wurden einhornartige Wesen auf 4000 Jahre alten Siegeln der Indus-Kultur abgebildet.
Höchstwahrscheinlich kommen die Ursprünge aus Indien oder Südostasien. Inspiriert wurden sie dabei vielleicht von dem indischen Einhorn-Nashorn (Rhinoceros unicornis). Ebenso könnten fossile Funde von dem Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis), des Wollmammuts (Mammuthus primigenius) und des Auerochsen (Bos primigenius) eine Inspirationsquelle gewesen sein.
Jüngste Untersuchungen zeigen, dass das fast 5 Meter lange sibirische Nashorn (Elasmotherium sibiricum) vor mindestens 39.000 Jahren existierte und zur gleichen Zeit wie der moderne Mensch lebte. Seine Überreste gelten als sibirisches Einhorn und könnten ebenfalls die Grundlage dieser Fantasiefigur sein. Ostsibirische Völker berichten über die Erlegung riesiger schwarzer Einhörner.

Jedenfalls waren die Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts noch der festen Überzeugung, dass es Randphänomene wie sprechende Hunde, Genies, Propheten und natürlich Einhörner gibt. Otto von Guericke war Teil dieser „Philosophie der vorstellbaren Dinge“, die sowohl legitime als auch phantastische Theorien vertraten.
Das Mysterium des Magdeburger Gerippes
Im Jahr 1663 wurde in Sachsen-Anhalt in einem Gipssteinbruch am Seveckenberg eine bizarre Ansammlung von versteinerten Knochen gefunden. Diese deutsche Steppe ist bekannt für Fossilien aus der Eiszeit und darüber hinaus.
Etwa fünf Jahre später soll Guericke das angeblich bei der Bergung zerbrochene Skelett versucht haben zu rekonstruieren. Es bestand laut Aufzeichnungen aus dem großen Schädel eines Pflanzenfressers, zwei großen Schulterblättern, zwei langen Beinen und einem Horn, sowie 20 weiteren Knochen.
Falls es diese Rekonstruktion jemals gegeben hat, ging sie letztendlich verloren. 1704 fertigte der Gießener Arzt und Gelehrte Michael Bernhard Valentini eine Zeichnung nach den Notizen und Skizzen an.

Dieses Bild wurde von Gottfried Wilhelm von Leibnitz nach eigenen Vorstellungen korrigiert und in seinem Buch “Protogaea” von 1749 veröffentlicht. Darin wird das Ungeheuer von Quedlinburg in Kapitel 35 beschrieben. Es war eine posthum veröffentlichte Abhandlung über Geowissenschaften und der Versuch des Philosophen, „die Saat einer neuen Wissenschaft namens Naturgeographie“ zu entwickeln – inklusive Einhörnern.
„Da Bartholin nachgewiesen hat, dass Einhörner (einst eines der kuriosesten und seltensten Schmuckstücke der naturgeschichtlichen Kabinette, heute aber der Bewunderung des Volkes preisgegeben) von Fischen aus dem Nordmeer abstammen, dürfen wir annehmen, dass das in unserer Landschaft gefundene Einhornfossil denselben Ursprung hat.
[…]
Dieses Skelett wurde aufgrund der Unwissenheit und der Unachtsamkeit der Ausgräber zerbrochen und in Stücken herausgeholt. Aber das Horn, zusammen mit dem Kopf und einigen Rippen, sowie das Rückgrat und einige Knochen, wurden der Äbtissin des Ortes gebracht.“
In den 1990ern erstellte der Präparator Urs Oberli schließlich eine plastische Rekonstruktion des Guericke-Einhorns, welches wir heute noch bewundern können.

Die Irrungen und Verwirrungen hinter dem Model
So wie die Knochenfunde damals Herrn Guericke vor ein Rätsel gestellt haben mussten, so ist auch heute die Frage um die ursprüngliche Quelle der Rekonstruktion immer noch eine wissenschaftliche Debatte.
Es ist nicht klar, ob das Modell oder die Zeichnungen zuerst da waren. Und ob sie zuerst von Leibniz kamen und dann Guericke zugeschrieben wurden oder ob am Ende vielleicht keiner von Beiden etwas damit zu tun hatte.
Verfasser des ersten Berichts mit Abbildung war Johannes Meyer, Astronom und Schatzmeister der Äbtissin von Quedlinburg. Sein deutscher Text war von beiden teilweise unterschiedlich übersetzt worden. Entdeckung, Ausgrabung, Bergung und Rekonstruktion des Einhorns wurden Guericke nur von Othenio Abel (erstmals 1918 und mehrfach danach) zugeschrieben, ohne dafür eine Quelle anzugeben.
Seine Geschichte von der vermeintlichen Entstehung wurde seitdem mit viel Fantasie immer weiter ausgeschmückt. Und so taucht es auch immer wieder im Internet und den Sozialen Medien auf. Allerdings wird dort meist fälschlich behauptet, dass es sich um die deformierten Überreste eines Wollnashorns handelt.
Das Sammelsurium seiner Knochen
Einer gängigen Theorie zufolge, handelte es sich zunächst um eine Chimäre aus Fossilen von verschiedenen Tieren.
Laut Paläo- und Archäozoologen ist das Horn höchstwahrscheinlich der Stoßzahn eines Narwals. Diese Wale leben in den arktischen Gewässern um Grönland, Kanada und Russland. Der linke obere Eckzahn der Narwal-Männchen bildet ein spiralförmig gedrehtes Horn mit einer Länge von bis zu über 3 Metern. Dessen Fundstücke sind ein weiterer möglicher Anlass für Einhorn-Mythen.
Der Schädel sieht aus wie der eines Wollnashorns und die Schulterblätter sowie die Knochen der beiden Vorderbeine stammen wohl vom ausgestorbenen und ebenfalls ziemlich mystischem Wollmammut.
Es bleibt trotz der möglichen Erklärung nahezu ein Wunder, wie all diese Tiere an einem Ort zusammen gekommen sein sollen.
Heute ist das letzte Einhorn Teil der Dauerausstellung im Naturkundemuseum von Magdeburg und direkt über der Haupttreppe zu finden. Man kann ebenfalls die Einhornhöhle in der Nähe der Bergstadt Quedlinburg besichtigen.
Autor: SmileGlobetrotter
Quellen: